1. Ziel der Studie
Die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wird seit 2006 regelmäßig durchgeführt, um Einstellungen, Werte und politische Orientierungen in der gesellschaftlichen „Mitte“ zu erfassen. Die Ausgabe 2024/25 steht unter dem Titel „Die angespannte Mitte“ und untersucht, inwieweit sich rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen in der gesellschaftlichen Mitte verfestigt und normalisiert haben.
Die Studie wurde im Frühjahr/Sommer 2025 durchgeführt, in einer Zeit politischer und sozialer Umbrüche: Nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland erzielte die AfD Rekordergebnisse, das Bündnis Sahra Wagenknecht trat neu auf, der Krieg in der Ukraine und der Nahostkonflikt belasteten Europa, während die Rückkehr Donald Trumps in das US-Präsidentenamt globale Unsicherheit verstärkte. Diese Umstände bildeten den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem die Wahrnehmung von Demokratie, Gerechtigkeit und Zugehörigkeit in Deutschland erhoben wurde.
Ziel der Studie ist es, den Zustand der demokratischen Mitte als Indikator für Stabilität und Gefährdung der liberalen Demokratie zu analysieren. Die Forschenden sprechen explizit von einem möglichen „Kipppunkt“, an dem demokratische Normen und Werte durch rechtsextreme Ideologien, Populismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erodieren könnten.
2. Die Normalisierung des Rechtsextremismus
Ein zentrales Ergebnis ist die fortschreitende Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Mitte. Etwa ein Fünftel der Befragten (21 %) bewegt sich im sogenannten „Graubereich“, d. h. sie zeigen ambivalente oder teils rechtsextreme Haltungen, während 76 % solche Einstellungen klar ablehnen. Im Vergleich zu früheren Erhebungen bleibt dieser Anteil nahezu konstant – was auf eine anhaltende strukturelle Stabilität des Rechtsextremismus hinweist.
Besonders alarmierend ist die zunehmende Legitimierung der AfD: 33 % der Befragten sehen sie als „Partei wie jede andere“, 82 % ihrer Wähler geben an, es sei ihnen „egal, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht“. Damit hat sich ein Zustand entwickelt, in dem rechtsextreme Deutungsmuster gesellschaftsfähig werden, selbst wenn sie nicht als solche erkannt werden.
Die Forschenden verweisen auf den Mechanismus der kognitiven Dissonanzreduktion: Wer eine rechtsextreme Partei wählt, neigt dazu, die eigene Einstellung im Nachhinein an das Wahlverhalten anzupassen. So wird die Ideologie nachträglich rationalisiert – ein Prozess, der die „Verschiebung des Sagbaren“ weiter verstärkt.
3. Demokratieverständnis und Demokratieskepsis
Obwohl 79 % der Befragten sich selbst als überzeugte Demokrat:innen bezeichnen – ein Anstieg um 6 % gegenüber 2020/21 –, offenbart die Studie eine tiefe Verunsicherung über das Verständnis von Demokratie. Fast die Hälfte der Befragten hält die deutsche Demokratie für nicht funktionsfähig oder zweifelt an ihrer Leistungsfähigkeit. Das Vertrauen in Institutionen wie Gerichte, Behörden oder Medien stagniert auf niedrigem Niveau.
Die Studie unterscheidet zwei Demokratietypen:
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Liberale Orientierung: Betonung von Grundrechten, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit.
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Majoritäre Orientierung: Betonung von Mehrheitsentscheidungen und direkter Volkssouveränität.
In der Mitte verschiebt sich die Gewichtung zunehmend von liberal zu majoritär, was die Akzeptanz illiberaler oder populistischer Positionen erleichtert. 42 % zeigen Offenheit für systemdelegitimierende Aussagen, und 17,5 % stimmen diesen überwiegend zu. Damit existiert ein potenzieller Resonanzraum für autoritäre Politikformen.
4. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)
4.1 Konzept und theoretischer Hintergrund
Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) wurde von Wilhelm Heitmeyer und Andreas Zick entwickelt und bildet seit über 20 Jahren das theoretische Rückgrat der FES-Mitte-Studien. GMF bezeichnet abwertende Vorurteile gegenüber bestimmten sozialen Gruppen, die als „anders“ markiert werden. Diese Vorurteile stiften kollektive Identität, reduzieren soziale Komplexität und stabilisieren Hierarchien – zugleich bilden sie den Nährboden für Diskriminierung, Exklusion und politische Gewalt.
Die GMF-Skala der Studie 2024/25 basiert auf vier zentralen Facetten:
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Rassismus
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Antisemitismus
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Hetero-/Sexismus
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Klassismus
Diese Facetten werden als Indikatoren einer zugrunde liegenden „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ verstanden – also der Überzeugung, dass bestimmte Menschengruppen weniger wert seien als andere. Empirisch zeigt sich eine hohe Korrelation: Wer einer Form von Abwertung zustimmt, neigt meist auch zu anderen.
4.2 Ergebnisse 2024/25
Die Zustimmung zu abwertenden Aussagen bleibt auf besorgniserregendem Niveau:
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Rassismus: M = 2,26 (auf einer Skala von 1–5)
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Antisemitismus: M = 2,03
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Hetero-/Sexismus: M = 2,01
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Klassismus: M = 2,42
Besonders auffällig sind persistente Stereotype gegenüber Muslimen, Sinti und Roma sowie Geflüchteten. Aussagen wie „Muslimen sollte die Zuwanderung untersagt werden“ oder „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ finden Zustimmung bei relevanten Minderheiten. Klassistische Urteile („Langzeitarbeitslose machen sich ein bequemes Leben auf Kosten der Gesellschaft“) werden sogar von breiten Teilen der Mitte geteilt.
Die Studie betont, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein Scharnier in den Rechtsextremismus darstellt. Je stärker Vorurteile in der Mitte verankert sind, desto leichter können rechtsextreme Akteure ihre Ideologie normalisieren. Die Autoren warnen vor einer Erosion des demokratischen Bewusstseins durch habituelle Abwertung.
5. Sozialisation und Autoritarismus
Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Zusammenhang zwischen Erziehung, Autoritarismus und rechtsextremen Einstellungen. Die Daten zeigen, dass eine autoritäre oder stark leistungsorientierte Sozialisation das Risiko erhöht, im Erwachsenenalter ein rechtsextremes Weltbild zu entwickeln. Entscheidend ist dabei das Zusammenspiel mit individueller Autoritarismusneigung:
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Bei niedrigem Autoritarismus spielt die elterliche Erziehung kaum eine Rolle.
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Bei hohem Autoritarismus verdoppelt sich jedoch die Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen, wenn die Eltern Gehorsam, Unterordnung oder übermäßige Leistungsorientierung betont haben.
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass rechtsextreme Orientierungen nicht primär vererbt, sondern sozial gelernt und durch autoritäre Strukturen verstärkt werden. Die Studie zieht daraus den Schluss, dass demokratische Bildung und emanzipatorische Erziehung zentrale Präventionsfaktoren sind.
6. Migration, Integration und Zugehörigkeit
Ein weiteres Kapitel („Mittendrin – In der Mehrheitsmigrationsgesellschaft“) untersucht, wie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund die Demokratie wahrnehmen. Überraschenderweise zeigen in Deutschland lebende Ausländer mehr Vertrauen in den Staat und seine Institutionen als deutsche Befragte ohne Migrationshintergrund. Dagegen äußern Deutsche mit Migrationshintergrund häufiger den Eindruck, ungerechter behandelt zu werden.
Nur 67 % der Deutschen mit Migrationshintergrund fühlen sich als Deutsche, aber 71 % als Europäer:innen – ein Zeichen für Entfremdung vom nationalen Selbstverständnis, aber auch für eine offene, postnationale Identität. Die Autorin Souad Lamroubal warnt in ihrem Beitrag vor einem politischen Rückschritt: Integrationspolitik werde zunehmend restriktiv und selektiv, wodurch Spaltung und Desintegration zunehmen.
7. Demokratie am Thema Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit
In einem thematischen Schwerpunkt („Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit“) analysiert die Studie die populistische Instrumentalisierung ökologischer Politik. Während progressive Haltungen auf Solidarität und Nachhaltigkeit zielen, nutzen populistische Akteure das Thema, um Verteilungsängste und Ressentiments zu mobilisieren. Der Klimadiskurs wird so zum Katalysator demokratischer Polarisierung.
Viele Befragte empfinden Klimaschutzmaßnahmen als „sozial ungerecht“ oder „von Eliten bestimmt“. Diese Wahrnehmung schafft Anschlussfähigkeit für rechtspopulistische Narrative, die ökologische Transformation als „Zwangsmaßnahme“ delegitimieren.
8. Regionale Lebenslagen und Demokratiezufriedenheit
Kapitel 8 („Raum, Daseinsvorsorge und Demokratie“) zeigt, dass die regionale Lebensqualität maßgeblich die demokratische Haltung beeinflusst. Wer seine Region als abgehängt wahrnimmt, neigt eher zu Demokratiedistanz oder Populismus. Besonders in strukturschwachen ländlichen Gebieten wächst die Überzeugung, dass „die Politik das Land missachtet“.
Gleichzeitig gilt: Wer seine Lebensqualität als gut bewertet, ist deutlich demokratiezugewandter – unabhängig von Einkommen oder Bildungsgrad. Demokratiezufriedenheit ist also eng an lokale Teilhabe und funktionierende Daseinsvorsorge gebunden.
9. Psychische Gesundheit und politische Radikalisierung
Ein bemerkenswerter Beitrag der Studie (Kapitel 9) behandelt den Zusammenhang zwischen mentaler Gesundheit und politischer Radikalisierung. Die Forschenden stellen fest, dass psychische Belastungen, Stress und Lebensunzufriedenheit mit einer höheren Offenheit für rechtsextreme oder verschwörungsideologische Narrative korrelieren.
Die Pandemieerfahrungen wirken hier nach: Personen, die den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstanden oder das Vertrauen in den Staat verloren, bewerten den Rechtsextremismus signifikant weniger bedrohlich und teilen häufiger neurechte Parolen („Die Politik betrügt das Volk“, „Deutschland gleicht einer Diktatur“).
Psychische Instabilität allein führe zwar nicht zu Radikalisierung, könne jedoch in Kombination mit gesellschaftlicher Desintegration eine „emotionale Eintrittspforte“ in autoritäres Denken bilden.
10. Bildung und Schule als demokratische Schutzräume
Das Kapitel „Schule als ideologische Kampfarena oder Rettungsanker der Demokratie?“ thematisiert die wachsenden Angriffe auf die politische Bildung. Rechtsaußenakteure, aber zunehmend auch Akteure aus der Mitte, instrumentalisieren das Neutralitätsgebot, um Antidiskriminierungsarbeit oder Demokratiebildung zu delegitimieren.
Die Autorinnen Achour und Höppner fordern daher eine autonome, rechtlich geschützte politische Bildung, die Freiräume für demokratische Wertearbeit bietet. Nur wenn Schule als Ort der Pluralität verteidigt werde, könne sie ein Bollwerk gegen den „Stabilokratismus“ (Krüger 2025) bleiben – also gegen eine formal stabile, aber inhaltlich entkernte Demokratie.
11. Ausblick
Die Mitte-Studie 2024/25 zeichnet ein ambivalentes, aber deutlich besorgniserregendes Bild:
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Die Zustimmung zu Demokratie bleibt hoch, doch ihr liberaler Kern bröckelt.
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Rechtsextreme Einstellungen bleiben in etwa konstant, während ihre gesellschaftliche Akzeptanz wächst.
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Die Mitte ist gespalten zwischen sozialer Verunsicherung und autoritären Versuchungen.
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Menschenfeindlichkeit wird zunehmend „normalisiert“ – besonders durch Sprache, Online-Kommunikation und politische Symbolik.
Die Forschenden konstatieren eine „angespannte Mitte“, die zwischen demokratischem Anspruch und autoritärer Versuchung schwankt. Psychische Belastungen, soziale Ungleichheit, regionale Abhängigkeit und eine verunsicherte politische Kommunikation tragen zu einem Zustand bei, den man als „vorpolitische Erosion“ beschreiben kann.
Am Ende warnen die Autor:innen: Deutschland stehe „nur eine Wahl von Trump-Verhältnissen entfernt“ (Sigmar Gabriel, 2025). Die Demokratie könne nicht allein durch Institutionen geschützt werden – sie müsse im Alltag der Mitte verteidigt werden, durch Bildung, soziale Gerechtigkeit und entschiedene politische Haltung.
12. Schlussfolgerung
Die Mitte-Studie 2024/25 belegt empirisch, was in der politischen Realität spürbar ist: Die gesellschaftliche Mitte befindet sich in einem kritischen Spannungszustand zwischen demokratischer Selbstvergewisserung und antidemokratischer Versuchung. Rechtsextreme Narrative dringen durch Alltagsvorurteile in die Mitte vor und werden dort durch soziale Verunsicherung, autoritäre Erziehungsmuster und kulturelle Ängste verstärkt.
Die Studie fordert daher ein ganzheitliches Demokratieverständnis, das psychische Stabilität, soziale Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit und eine offene politische Kultur als gleichwertige Säulen begreift. Nur so lässt sich verhindern, dass die „angespannte Mitte“ kippt – und mit ihr die Demokratie selbst.
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