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aus der Geschichte: Wie die SPD zur Volkspartei wurde - Erinnerungen an das Godesberger Programm


Das Godesberger Programm der SPD – Eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ – dieser berühmte Satz Willy Brandts wurde zwar erst ein Jahrzehnt später geprägt, doch er bringt das Selbstverständnis auf den Punkt, das die SPD mit dem Godesberger Programm verankerte. Das Programm, das am 15. November 1959 auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in Bad Godesberg verabschiedet wurde, markiert eine tiefgreifende Wende in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Es war nicht nur eine programmatische Erneuerung, sondern ein bewusster Akt der ideologischen Neuorientierung, der den Weg der SPD von einer Klassenpartei der Arbeiterschaft zu einer Volkspartei ebnete. Der historische Kontext, die programmatischen Inhalte, die innerparteilichen Auseinandersetzungen und die langfristigen politischen Folgen machen das Godesberger Programm zu einem zentralen Dokument der bundesdeutschen Parteiengeschichte.

Historischer Hintergrund: Von der Klassenpartei zur Volkspartei

Die SPD war seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert eng mit der Arbeiterbewegung verbunden und verstand sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Klassenpartei des Proletariats. Sie orientierte sich an marxistischen Theorien, die auf eine grundlegende Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzielten. Das Heidelberger Programm von 1925 beispielsweise hielt noch deutlich am Klassenkampfgedanken fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 fand sich die SPD jedoch in einer veränderten politischen Landschaft wieder. Die politischen Mehrheiten verschoben sich, das Wirtschaftswunder veränderte die Sozialstruktur, und die SPD blieb in den 1950er Jahren auf Bundesebene dauerhaft in der Opposition.

Die Führung um Erich Ollenhauer und insbesondere der spätere Bundeskanzler Willy Brandt, der als charismatischer Reformer und überzeugter Verfechter eines modernen, weltoffenen Sozialismus galt, erkannten, dass eine ideologische Neuausrichtung notwendig war, um breitere Wählerschichten zu erreichen und die SPD regierungsfähig zu machen. Die Orientierung an der Arbeiterschaft allein erschien vor dem Hintergrund wachsender Mittelschichten, steigender Bildungsgrade und pluralisierter Lebenswelten als überholt. Die SPD musste sich also programmatisch öffnen, ohne ihre sozialen Wurzeln zu verleugnen.

Ziele und Inhalte des Godesberger Programms

Das Godesberger Programm markierte die Abkehr vom orthodoxen Marxismus. Es bekannte sich zur sozialen Marktwirtschaft, zur parlamentarischen Demokratie und zur westlichen Bündnispolitik. Es war damit ein klares Signal der Anpassung an die realpolitischen Gegebenheiten der Bundesrepublik.

  1. Demokratischer Sozialismus statt Klassenkampf
    Der Begriff des „demokratischen Sozialismus“ wurde zentral. Die SPD distanzierte sich von einer revolutionären Systemüberwindung und stellte stattdessen eine Reformstrategie in den Mittelpunkt. Der Sozialismus wurde nicht mehr als ein antagonistisches Gegenmodell zur kapitalistischen Gesellschaft, sondern als ein gesellschaftliches Leitbild verstanden, das durch demokratische Mittel schrittweise verwirklicht werden sollte.

  2. Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft
    Ein besonders markanter Punkt war das positive Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft. Dies zeigte sich unter anderem in der Akzeptanz marktwirtschaftlicher Instrumente wie Wettbewerb, freier Preisbildung und unternehmerischer Initiative – jedoch stets eingebettet in sozialstaatliche Leitplanken. Ein konkretes Beispiel war die Förderung genossenschaftlicher Wohnungsbauprojekte, die marktwirtschaftliche Mechanismen mit sozialpolitischen Zielsetzungen verbanden. Während die SPD früher Planwirtschaft und Vergesellschaftung forderte, wurde nun der Markt als Instrument akzeptiert, das unter sozialstaatlicher Rahmensetzung Wohlstand und Gerechtigkeit erzeugen kann. Privateigentum an Produktionsmitteln wurde nicht mehr grundsätzlich abgelehnt, sondern als mit sozialer Verantwortung vereinbar betrachtet.

  3. Parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat
    Die SPD bekräftigte ihr Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zum Rechtsstaat. Die Bundesrepublik wurde als legitimer Ordnungsrahmen akzeptiert. Damit vollzog die SPD einen wichtigen Schritt weg von den antikapitalistischen und teilweise systemkritischen Positionen früherer Jahrzehnte hin zur affirmativen Haltung gegenüber den Institutionen der westdeutschen Nachkriegsordnung.

  4. Westbindung und internationale Verantwortung
    Auch außenpolitisch brachte das Godesberger Programm eine Neuorientierung. Die SPD bekannte sich zur Westbindung, zur NATO und zur europäischen Integration. Diese Positionen waren in der Nachkriegszeit keineswegs selbstverständlich, insbesondere nicht für eine Partei mit pazifistischer und neutralistischer Tradition. Mit diesem Schritt signalisierte die SPD ihre Bereitschaft, Verantwortung in der internationalen Politik zu übernehmen.

  5. Bildung, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit
    Ein zentrales Reformziel blieb der Abbau sozialer Ungleichheiten. Das Programm formulierte eine Bildungsoffensive, die Chancengleichheit durch ein durchlässiges, leistungsförderndes Bildungssystem schaffen sollte. Die Idee eines sozial gerechten, aber leistungsorientierten Staates wurde so zum Kern sozialdemokratischer Politik.

Reaktionen und innerparteiliche Debatten

Der Weg zum Godesberger Programm war von intensiven innerparteilichen Debatten begleitet. Insbesondere der Verzicht auf marxistische Terminologie und die Aufgabe zentraler sozialistischer Forderungen rief Kritik in der Partei hervor. Linke Strömungen sahen darin eine Preisgabe sozialistischer Prinzipien zugunsten des Opportunismus. Dennoch gelang es der Parteiführung, einen breiten Konsens herzustellen. Die intensive programmatische Arbeit wurde von Persönlichkeiten wie Carlo Schmid, Fritz Erler, Herbert Wehner und später Willy Brandt getragen.

Die Zustimmung zum Godesberger Programm war mit 324 zu 16 Stimmen überwältigend. Der Parteitag wurde von Beobachtern als historisch und atmosphärisch geladen beschrieben, viele Delegierte sprachen von einer "neuen Zeit". Auch die Presse – etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit – würdigte das Programm als „Abschied vom Dogma“ und als bedeutenden Schritt hin zur Regierungsfähigkeit. Dies zeigte, dass trotz mancher Kritik der Reformwille innerhalb der Partei breit getragen wurde. Die SPD hatte erkannt, dass sie nur dann eine realistische Chance auf Regierungsverantwortung hatte, wenn sie sich von ideologischen Dogmen löste und sich als gestaltende Kraft in der Mitte der Gesellschaft positionierte.

Wirkung und politische Folgen

Die Auswirkungen des Godesberger Programms zeigten sich in den folgenden Jahrzehnten deutlich. Die SPD konnte unter Willy Brandt 1969 erstmals wieder in Regierungsverantwortung auf Bundesebene gelangen. Die neuen programmatischen Grundlagen ermöglichten es, breite Koalitionen mit Gewerkschaften, Intellektuellen, reformorientierten Bürgern und progressiven Mittelschichten zu bilden. Die Modernisierungspolitik der 1970er Jahre – insbesondere die Ostpolitik, Bildungsreformen und Sozialstaatsausbau – wären ohne die programmatische Öffnung von 1959 kaum denkbar gewesen.

Zudem diente das Godesberger Programm als Modell für andere sozialdemokratische Parteien Europas, etwa die britische Labour Party oder die französische Parti Socialiste. Es war ein Meilenstein im Prozess der Transformation der europäischen Sozialdemokratie von einer Klassenbewegung zu modernen Regierungsparteien.

Kritische Würdigung und historische Bedeutung

In der Rückschau gilt das Godesberger Programm als eine der wichtigsten programmatischen Entscheidungen in der Geschichte der SPD. Es steht exemplarisch für den Wandel sozialdemokratischer Politik im 20. Jahrhundert: Weg vom Dogma, hin zur Pragmatik; weg von der Klassenfixierung, hin zur Integration vielfältiger sozialer Milieus.

Allerdings blieb die Frage nach der Identität der SPD auch nach Godesberg virulent. Kritiker warfen der Partei immer wieder vor, durch die programmatische Öffnung ihr Profil verwässert zu haben. Auch in späteren Jahrzehnten, etwa bei der Agenda 2010, wurde auf Godesberg verwiesen – sowohl affirmativ als Bezugspunkt pragmatischer Politik, als auch kritisch als Symbol für eine Abkehr von sozialistischen Idealen.

Trotz dieser Ambivalenzen bleibt festzuhalten: Das Godesberger Programm war eine mutige und richtungsweisende Entscheidung, die bis heute nachwirkt – etwa in der fortdauernden Diskussion um die Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Effizienz innerhalb der SPD sowie in aktuellen Debatten um die Erneuerung des Partei- und Gesellschaftsverständnisses. die den Charakter der SPD entscheidend prägte. Es ermöglichte nicht nur die Rückkehr zur Macht, sondern auch die aktive Mitgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Quellen:

  • SPD-Parteitag in Bad Godesberg 1959: Das Godesberger Programm. Online zugänglich über die Friedrich-Ebert-Stiftung: https://www.fes.de

  • Winkler, Heinrich August: "Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung." München 2000.

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