Markus Krall und das Wahlrecht: Warum der Entzug für ‚Transferbezieher‘ verfassungswidrig und demokratieschädlich ist
Heute mal ein etwas längerer und ausführlicher Post. Nach der Lektüre von Markus Kralls Buch "Die bürgerliche Revolution" (2020) rekonstruiere ich seine Position zum Wahlrechtsentzug für Bezieher staatlicher Leistungen, prüfe die behaupteten Begründungen kritisch und vergleiche sie mit historischen und libertären Denkschulen.
Was fordert Markus Krall konkret?
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Abschaffung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts: Krall will, „die Interessen der Steuer- und Beitragszahler“ zu stärken, indem Empfängern von Transferleistungen das Wahlrecht entzogen wird. Explizit genannt werden u. a. BAföG, Sozialhilfe sowie Beschäftigte in subventionierten Betrieben. In Die bürgerliche Revolution verknüpft er dies mit einem weitreichenden Verfassungsentwurf (u. a. ein auf Lebenszeit gewählter „Wahlkönig“ mit Vetorecht in Grundsatzfragen).
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„Entweder wählen oder Transfers“ – pro Legislaturperiode: Öffentlich präzisierte Krall die Logik so, dass zu Beginn einer Legislaturperiode jede Person zwischen Wahlrechtsausübung und Bezug staatlicher Transfers entscheiden solle. Wer Transfers nimmt, verliert das Wahlrecht für diese Periode. (Dokumentiert u. a. in der FR-Zusammenfassung eines Sachsen-Auftritts Kralls.)
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Kontext der Gesamtagenda: Kralls Reformmodell reicht über das Wahlrecht hinaus (z. B. drastisch verkleinerte Exekutive; Antiparteien-Design; Lebenszeit-„Wahlkönig“). Diese Elemente zeigen, dass der Wahlrechtsentzug kein isolierter Vorschlag, sondern Teil eines grundlegenden Systemumbaus ist.
Im öffentlichen und publizistischen Umfeld werden für Kralls Vorstoß im Wesentlichen folgende Begründungslinien sichtbar; sie lassen sich – primär aus Kralls eigener Darstellung (Buch/Reden) und autoritativen Zusammenfassungen – rekonstruieren. Ich ordne sie jeweils kritisch ein:
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Interessenkonflikt-These: Wer staatliche Transfers erhält, habe ein materielles Interesse an höheren Ausgaben und sei daher „befangen“ – deshalb müsse man diese Gruppe vom Wahlakt ausschließen.
Einordnung: Das ist eine normative Behauptung, keine empirische Notwendigkeit. In pluralistischen Demokratien ist Interessenvertretung gerade Kern des Wahlrechts – auch Rentner:innen, Beamte, Unternehmer:innen oder Exportbeschäftigte haben materielle Interessen. Das Grundgesetz löst Interessenkonflikte nicht durch Ausschluss, sondern durch allgemeines, gleiches Wahlrecht (Art. 38 GG). -
„Stärkung der Steuer- und Beitragszahler“: Krall begründet den Entzug ausdrücklich mit dem Ziel, die Interessen der Nettozahler aufzuwerten.
Einordnung: Auch Nettozahler sind nicht homogen; dieselbe Person kann in der Bildungsphase (BAföG), Erwerbsphase (Nettozahler) und im Alter (Rente/Transfer) verschiedenen Gruppen angehören. Pauschalausschlüsse segmentieren das Staatsvolk künstlich und widersprechen dem Prinzip, dass Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes“ sind. -
„Entscheidung pro Legislatur: wählen oder Transfers“: Krall schlägt eine periodische Verzichtsoption vor.
Einordnung: Das konditioniert Grundrechte an Sozialstatus/Bedürftigkeit. Es erzeugt perverse Anreize (z. B. notwendige Hilfe nicht zu beantragen, um das Wahlrecht nicht zu verlieren) und bestraft Armut. Zudem ist die Begriffswahl „Transfer“ extrem weit (bis zu Beschäftigten in subventionierten Branchen) – eine unklare, politisch manipulierbare Abgrenzung. -
Systemumbau/„Wahlkönig“: Die Idee eines lebenszeitlich gewählten Vetoträgers verengt demokratische Kontrollmöglichkeiten zusätzlich.
Einordnung: Das ist systemisch elitär und mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 GG) schwer vereinbar; die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 GG sind tragende Pfeiler. Das BVerfG versteht Art. 38 weit als „Recht auf Demokratie“. Ein Ausschluss ganzer sozioökonomischer Gruppen träfe den Kern demokratischer Gleichheit.
Verfassungsrechtlicher Realitätscheck
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Art. 38 Abs. 1 GG garantiert Wahlen, die allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sind. Der allgemeine und gleiche Charakter wird prinzipiell verletzt, wenn man Bürger:innen wegen Sozialstatus/Transferbezug ausschließt. Der weite Schutzhorizont des BVerfG („Recht auf Demokratie“) spricht gegen jede Aushöhlung des politischen Status durch sozioökonomische Kriterien.
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Einfachgesetzliche Ausgestaltung (BWahlG) hat eng gesetzte Schranken: Der Gesetzgeber besitzt Spielraum bei Wahlsystem-Details, nicht beim Substanzkern (Gleichheit/Allgemeinheit). Die jüngere Rechtsprechung zum Wahlrecht zeigt, dass selbst Sperrklauseln strenge Maßstäbe treffen – sozioökonomische Wahlverbote wären unverhältnismäßig.
Zwischenergebnis: Kralls Projekt kollidiert frontal mit Art. 38 GG; eine Änderung träfe den durch die Verfassung geschützten Wesensgehalt demokratischer Legitimation.
Historische und libertäre Vergleiche
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Zensuswahlrecht & Dreiklassenwahlrecht (19. Jh.): Historisch wurden Stimmen nach Vermögen/Steueraufkommen gewichtet oder Wahlrechte beschränkt. Ergebnis: systematische Unterrepräsentation unterer Klassen und strukturelle Bevorzugung konservativer Eliten (belegt für Preußen 1850–1918). Kralls Vorschlag knüpft faktisch an diese exkludierenden Modelle an.
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Libertäre Varianten heute: Innerhalb libertärer Strömungen existieren Positionen, die Transferempfänger oder Staatsangestellte vom Wahlrecht ausschließen (z. B. Hoppe; teils als „paläolibertär“ etikettiert). Krall wird in solchen Übersichten explizit genannt. Wichtig: Libertarismus ist nicht einheitlich – viele libertäre Denker lehnen Wahlrechtsentzug ab.
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Normativer Kontrast: Während klassische Liberale/Zentristen demokratische Gleichheit als Reformbasis sehen, verschiebt der neoproprietaristische Strang die Legitimation hin zu Eigentum/Nettozahlung. Historisch hat sich die Demokratie jedoch gerade vom Zensus weg zur allgemeinen Gleichheit entwickelt (1918/19).
Praktische Probleme des Modells
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Abgrenzung „Transfer“: Zählen Kindergeld, Wohngeld, Renten, Kurzarbeitergeld, Subventionsbeschäftigung? Die breite, politisierbare Definition öffnet Missbrauch – der Wählerkreis würde durch Regierungsmehrheiten strategisch manipulierbar.
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Armutssanktion & chilling effect: Bedürftige Menschen würden aus Angst vor Stimmverlust Hilfe nicht beantragen – ein sozialpolitischer Bumerang.
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Demokratische Legitimation: Ein Parlament, dessen Wahl große Bevölkerungssegmente ausschließt, verliert Legitimität – historisch belegte Folgen (niedrige Beteiligung, Schieflagen) sind Warnsignale.
Kralls Forderung, Transferbeziehern (bis hin zu Beschäftigten in subventionierten Betrieben) das Wahlrecht zu entziehen, ist weder verfassungsfest noch demokratisch vertretbar. Sie reaktiviert exkludierende Wahlmodelle des 19. Jahrhunderts und verfehlt den Kern moderner Demokratie: politische Gleichheit. Auch libertäre Traditionen liefern keinen zwingenden Grund, die Staatsbürgerrechte an Kontostände zu koppeln. Wer Demokratie gegen „Stimmenkauf“ schützen will, muss Transparenz, Parteien- und Kampagnenregeln stärken – nicht Bürger:innen vom Wahlakt ausschließen.
Meine Quellen (nur eine Auswahl, aber zitierfähig)
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Markus Krall – Die bürgerliche Revolution, ab S. 241 f.
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FR-Analyse zum Sachsen-Auftritt („wählen oder Transfers“): Frankfurter Rundschau, 4. März 2020.
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Verfassungsrechtliche Maßstäbe: Art. 38 GG (gesetze-im-internet); Bundestag-Erklärung zu Wahlrechtsgrundsätzen; BVerfG-Hinweise zur demokratischen Substanz/„Recht auf Demokratie“.
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