Am 24. September 1977 erlebte die niederrheinische Kleinstadt Kalkar einen Tag, der in die Geschichte der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung einging. Rund 50.000 Menschen aus der gesamten Bundesrepublik und dem benachbarten Ausland strömten damals an den Bauplatz des Schnellen Brüters – eines neuartigen Kernkraftwerks, das für Jahrzehnte Symbol einer umstrittenen Energiepolitik blieb.
Hintergrund: Der Schnelle Brüter in Kalkar
Bereits Anfang der 1970er Jahre hatten die Planungen für das Schnelle Brüter-Kernkraftwerk begonnen. Die Anlage sollte Plutonium als Brennstoff nutzen und im laufenden Betrieb mehr spaltbares Material erzeugen, als sie verbrauchte – ein Konzept, das in den Augen von Befürwortern den Weg in eine nahezu unbegrenzte Energiezukunft versprach. Kritiker warnten hingegen vor den gewaltigen Sicherheitsrisiken, der militärischen Missbrauchsgefahr und den ungeklärten Fragen der Endlagerung.
Die Baukosten explodierten: Aus ursprünglich geschätzten 500 Millionen D-Mark wurden bis Mitte der 1980er Jahre mehr als sieben Milliarden D-Mark – ohne dass das Kraftwerk jemals in Betrieb ging.
Der Weg zur Großdemonstration
Die Anti-Atomkraft-Bewegung hatte in den Jahren zuvor bereits durch Proteste in Wyhl, Brokdorf oder Grohnde an Schlagkraft gewonnen. Für den 24. September 1977 riefen Bürgerinitiativen, Umweltverbände und linke Gruppen zu einer Großdemonstration in Kalkar auf. Ziel war es, ein deutliches Zeichen gegen die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters zu setzen.
Die politische Großwetterlage war angespannt: Nur wenige Tage zuvor hatte die Bundesrepublik den "Deutschen Herbst" erlebt – die RAF-Morde und die verschärfte innere Sicherheitspolitik prägten das Klima. Die Behörden fürchteten Ausschreitungen, und der Polizeieinsatz wurde entsprechend massiv vorbereitet.
Persönliche Erinnerung: Mein Weg nach Kalkar
An diesem Samstagmorgen trafen wir uns bereits um 9 Uhr, um gemeinsam die rund 40 Kilometer nach Kalkar zurückzulegen. Die meisten waren mit einem Mofa oder ähnlichen Gefährten unterwegs. Ich selbst, damals 17 Jahre alt, hatte bereits einen Autoführerschein – allerdings durfte ich offiziell nur in Begleitung eines Elternteils fahren. Das hielt mich nicht davon ab, meinen ersten kleinen Rechtsverstoß zu begehen: Wenige Wochen vor meinem 18. Geburtstag ignorierte ich diese Auflage schlicht.
Mein Fahrzeug war ein VW Käfer, Baujahr 1961 – in einer Kneipe für 250 D-Mark erworben, vollgetankt und bereit für das Abenteuer. Mit fünf Freunden an Bord machten wir uns auf den Weg. Die Fahrt war ein Stück jugendlicher Freiheit, gemischt mit der Aufregung, Teil einer Bewegung zu sein, die Geschichte schreiben wollte.
Ablauf der Demonstration
Trotz des martialischen Polizeiaufgebots verlief der Protest überwiegend friedlich. Ein riesiger Demonstrationszug bewegte sich durch Kalkar, begleitet von Transparenten wie „Stoppt den Brüter – Keine Atomenergie“ oder „Plutonium macht keine Kinderträume wahr“. Musikgruppen, Straßentheater und Redebeiträge sorgten für eine Mischung aus politischem Ernst und kreativem Protest.
Augenzeugen berichten von einer fast „volksfestartigen“ Atmosphäre – auch wenn es am Rande zu kleineren Rangeleien kam. Die Demonstration gilt als eine der größten ihrer Zeit und wurde von zahlreichen Medien im In- und Ausland begleitet.
Politische Wirkung
Die Proteste in Kalkar trugen entscheidend dazu bei, die Anti-Atomkraft-Bewegung in der Bundesrepublik zu einer festen Größe der politischen Landschaft zu machen. Zwar wurde der Bau des Brüters fortgesetzt, doch der öffentliche Druck wuchs. Als die Anlage 1985 technisch fertiggestellt war, entschied sich die Bundesregierung – unter dem Eindruck veränderter energiepolitischer Rahmenbedingungen – gegen die Inbetriebnahme. 1991 wurde das Projekt endgültig eingestellt.
Das Gebäude erlebte danach eine kuriose Zweitkarriere: Heute befindet sich an gleicher Stelle ein Freizeitpark, das „Wunderland Kalkar“, dessen Infrastruktur noch immer auf den ursprünglichen Kraftwerksbauten basiert.
Bedeutung aus heutiger Sicht
Die Demonstration vom 24. September 1977 steht rückblickend für eine Phase, in der Bürgerprotest das energiepolitische Denken in Deutschland nachhaltig beeinflusste. Sie markiert einen Wendepunkt, an dem sich erstmals zeigte, dass der Widerstand gegen Atomkraft nicht nur ein lokales, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema war.
Der Name „Kalkar“ bleibt damit untrennbar verbunden mit der Frage nach den Chancen und Risiken technologischer Großprojekte – und mit der Erkenntnis, dass gesellschaftlicher Wandel oft von der Straße ausgeht.
Meine Quellen:
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BUND – Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Geschichte des Anti-Atom-Protests in NRW.
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Landesarchiv NRW, Fotosammlung „Demonstration Kalkar 1977“.
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Spiegel-Archiv, Ausgaben September/Oktober 1977.
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