Wir leben in einer Gegenwart, die sich gern als pragmatisch, zukunftsorientiert und faktenbasiert geriert. Geschichte scheint in diesem Bild bestenfalls Kulisse, schlimmstenfalls Ballast zu sein. Doch der Schein trügt: Geschichte vergeht nicht. Sie lebt fort – in Denkmustern, Institutionen, Narrativen und nicht zuletzt in politischen Entscheidungen. Wer glaubt, er könne die Vergangenheit ignorieren, überlässt sie jenen, die sie ideologisch umdeuten.
In Wahlkämpfen wird Geschichte regelmäßig instrumentalisiert. Ob der Verweis auf die "goldenen Jahre" der Sozialen Marktwirtschaft, auf die "Wendezeit" oder auf die dunklen Kapitel des 20. Jahrhunderts – stets dient Geschichte als Deutungsrahmen für Gegenwartsprobleme. Dabei geht es nicht nur um historische Genauigkeit, sondern um politische Deutungshoheit. Wer kontrolliert, was erinnert wird, der beeinflusst, was als möglich, legitim oder gefährlich erscheint.
Gerade in Deutschland ist das historische Bewusstsein ein ambivalentes Erbe. Die Bundesrepublik hat aus der Katastrophe der NS-Zeit Lehren gezogen – Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Föderalismus, Erinnerungskultur. Doch die jüngeren Debatten zeigen: Diese Errungenschaften sind nicht selbstverständlich. Wenn beispielsweise Politiker von einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" sprechen, ist das kein bloßer Tabubruch, sondern ein gezielter Angriff auf die Grundlagen demokratischer Kultur. Die Geschichte der Weimarer Republik, die in einer Kombination aus wirtschaftlicher Krise, politischer Polarisierung und geschichtsvergessener Verharmlosung unterging, mahnt zur Wachsamkeit.
Doch auch jenseits solcher Extreme wirkt Geschichte in politischen Fragen nach. Debatten über Kolonialverbrechen, über Enteignung und Eigentum, über Migration oder Sozialpolitik sind ohne historische Tiefenschärfe kaum zu führen. Wer heute über globalen Wohlstand spricht, muss wissen, auf welchen historischen Ungleichheiten er fußt. Wer soziale Ungleichheit in Deutschland thematisiert, sollte die Folgen jahrzehntelanger Vererbung von Vermögen, Bildung und sozialem Status kennen.
Geschichte liefert keine fertigen Antworten, aber sie öffnet den Raum für kritische Fragen. Sie zwingt uns zur Reflexion: Wie wurde das, was heute ist? Was hätte anders laufen können? Und vor allem: Was davon liegt in unserer Verantwortung? Politisches Handeln ohne historisches Bewusstsein ist blind. Es läuft Gefahr, alte Fehler zu wiederholen oder bestehende Missstände als naturgegeben hinzunehmen.
Wenn wir also nach vorn blicken, sollten wir nicht versuchen, Geschichte hinter uns zu lassen. Vielmehr müssen wir lernen, sie als Teil unserer politischen Gegenwart zu begreifen – nicht als Ballast, sondern als Kompass. Denn eine Demokratie, die ihre Geschichte nicht kennt, wird ihre Zukunft nicht gestalten, sondern erleiden.
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