Warum der Traum vom Einfamilienhaus kein Maßstab für Gerechtigkeit ist – Eine kritische Generationenbilanz
Bei einem meiner Streifzüge durch die sozialen Medien ist mir ein Post ins Auge gefallen, der symptomatisch ist für ein weitverbreitetes Missverständnis über die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft – und den aktuellen Zustand unserer Gesellschaft. Der Verfasser behauptete:
„Rentner sind wütend über meinen Tweet, aber es ist eine absolute TATSACHE, dass man sich früher ein Haus, Auto und eine Familie leisten konnte und dazu noch eine Frau, die nicht arbeiten musste. Und das alles mit einem NORMALEN Job. Heutzutage ist das absolut UNMÖGLICH.“
Quelle: bluesky Post vom 28.7.2025
Solche Aussagen, vielfach beklatscht, sind nicht nur verkürzt, sondern auch historisch schief. Sie gründen auf der selektiven Verklärung einer Vergangenheit, die es so nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung gab – und selbst da unter spezifischen Bedingungen.
Kein „normaler“ Zustand, sondern ein Ausnahmefenster
Was in diesem Tweet als „normal“ beschrieben wird, war tatsächlich ein kurzer Abschnitt der westdeutschen Geschichte, in dem einige günstige Faktoren zusammenwirkten: starkes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, industrielle Tarifbindung, relativ geringe Mieten in vielen Regionen, staatlich geförderter sozialer Wohnungsbau und ein steuerliches Umfeld, das Reichtum stärker belastete als heute.
Doch diese Phase – grob die Jahre zwischen 1955 und 1980 – war kein Naturzustand. Sie war das Ergebnis eines politischen Konsenses, der soziale Sicherheit, staatliche Steuerung und wirtschaftliche Teilhabe miteinander verband. Und: Sie war nicht inklusiv. Frauen waren oft systematisch aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Die vielzitierte „nicht arbeitende Ehefrau“ war in Wahrheit vielfach ökonomisch abhängig, rechtlich benachteiligt und gesellschaftlich entmündigt.
Die unbequeme Wahrheit: Früher war nicht „billiger“, sondern anders verteilt
Wer heute sagt, „man konnte sich früher mit einem normalen Job ein Haus leisten“, verschweigt, dass dieser Satz bestenfalls für Facharbeiter in tarifgebundenen Industriebetrieben im Westen galt – mit Eigenheimförderung, Bausparverträgen, kinderlosen Großeltern im Haus und der Aussicht auf jahrzehntelange Arbeitsplatzsicherheit. Millionen andere – Alleinerziehende, Migranten, Arbeiter in prekären Jobs – hatten daran keinen Anteil. Von Ostdeutschen ganz zu schweigen.
Und heute? Die Produktivität ist gestiegen, das BIP hat sich vervielfacht, doch die Verteilung ist aus dem Ruder gelaufen. Reallöhne stagnierten über Jahre, der Wohnungsmarkt wurde liberalisiert, öffentliche Daseinsvorsorge privatisiert. Wer also behauptet, das Problem sei nur, dass heute alles „teurer“ sei, verkennt die Ursachen: Es ist nicht der Preis, es ist die Politik.
Generationenkonflikte als Nebelkerze
Was mich an dem Tweet am meisten stört, ist die unterschwellige Konfrontation: „Rentner sind wütend“ – als ob eine ganze Generation sich zu rechtfertigen hätte für strukturelle Veränderungen, die politisch gewollt und wirtschaftlich durchgesetzt wurden. Die meisten Älteren tragen keine Verantwortung für die globale Finanzialisierung, für die Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt oder für die Deregulierung der Arbeitswelt. Viele von ihnen haben im Gegenteil noch unter ganz anderen Bedingungen gearbeitet und gelebt – mit 48-Stunden-Wochen, ohne Mindestlohn, ohne Elterngeld.
Was wir brauchen, ist mehr Aufklärung – und weniger Polemik
Solche Tweets sind nicht harmlos. Sie verfestigen Feindbilder und verstellen den Blick auf die wahren Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheit. Wer sich ernsthaft für eine gerechtere Zukunft interessiert, sollte nicht in sozialen Medien Schuldige suchen, sondern politische Verantwortung benennen – und sie auch einfordern.
Der Vergleich mit der Vergangenheit mag emotional verständlich sein – analytisch ist er meist unbrauchbar. Denn die Frage ist nicht: Warum geht heute nicht mehr, was früher ging? Sondern: Warum lassen wir heute zu, dass es so ungerecht ist, obwohl wir so viel mehr könnten?
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