Wie ein Dokument von 1975 Europas Ordnung bis heute prägt
Am 1. August 1975 unterzeichneten 35 Staaten in Helsinki ein Dokument, das zu einem Meilenstein der europäischen Geschichte wurde: die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Fünf Jahrzehnte später stellt sich die Frage: Welche Wirkung hatte dieses Abkommen – und was bleibt davon heute noch?
Die KSZE-Schlussakte war kein klassischer Vertrag, sondern ein politisches Bekenntnis. Sie enthielt keine bindenden Sanktionen, doch sie etablierte Prinzipien, die das Denken über Sicherheit, Menschenrechte und Souveränität nachhaltig veränderten. Besonders bemerkenswert: Ihre Relevanz reicht bis in die aktuellen Spannungen in Europa.
Ein Wendepunkt im Kalten Krieg
Die 1970er Jahre waren geprägt von Blockkonfrontation, atomarer Aufrüstung und wachsendem Misstrauen zwischen Ost und West. Doch zugleich wuchs der Wille, eine stabile europäische Ordnung zu schaffen, die auf Regeln und Kommunikation beruhte. Die Konferenz in Helsinki war das Resultat dieses Willens.
In der Schlussakte einigten sich die Teilnehmerstaaten auf drei sogenannte „Körbe“:
-
Sicherheit in Europa: territoriale Integrität, Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen
-
Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt
-
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
Vor allem der dritte Bereich erwies sich als langfristig bedeutsam. Er verlieh Dissidenten in der DDR, in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion Argumentationshilfe – und eröffnete dem Westen neue Möglichkeiten der Einflussnahme. Das Regimekritik wurde durch die Berufung auf unterzeichnete Prinzipien legitimiert.
Reaktionen und Folgen in Ost und West
Im Westen wurde die Schlussakte zunächst kritisch betrachtet. Viele Politiker fürchteten, durch die formale Anerkennung bestehender Grenzen – etwa der Oder-Neiße-Linie – den Status quo zu zementieren. In der DDR hingegen präsentierte das SED-Regime das Abkommen als diplomatischen Erfolg, doch gleichzeitig versuchte es, die Menschenrechtsklauseln kleinzureden oder zu ignorieren.
Dissidentengruppen wie die Charta 77 in der Tschechoslowakei oder die Helsinki-Gruppen in der Sowjetunion griffen die Menschenrechtsbestimmungen der Schlussakte offensiv auf. Die Wirkung war nicht sofort sichtbar, aber sie wuchs im Laufe der Jahre. Helsinki wurde so zur moralischen Legitimation des Widerstands gegen autoritäre Regime.
Das Erbe der KSZE im Europa von heute
Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die KSZE zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weiterentwickelt. Auch heute noch überwacht die OSZE Wahlen, vermittelt in Konflikten und engagiert sich für den Schutz von Minderheiten.
Doch das Grundverständnis, auf dem die Schlussakte von 1975 beruhte – Dialog statt Gewalt, gemeinsame Regeln statt Konfrontation –, ist zunehmend unter Druck geraten. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Krieg gegen die Ukraine seit 2022 sind eklatante Brüche mit den Prinzipien von Helsinki.
Viele der unterzeichnenden Staaten sehen sich heute mit einer neuen sicherheitspolitischen Realität konfrontiert, in der nicht mehr alle Akteure den Verzicht auf Gewalt und die Unverletzlichkeit von Grenzen respektieren. Gerade deshalb gewinnt die Erinnerung an die KSZE-Schlussakte wieder an Bedeutung: Sie bietet ein historisches Referenzmodell für friedliche Koexistenz in schwierigen Zeiten.
Was wir aus 1975 lernen können
Ein halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte ist klar: Ihre Kraft lag nicht in der rechtlichen Verbindlichkeit, sondern in ihrer normativen Autorität. Sie schuf einen Rahmen, in dem Vertrauen wachsen konnte – ein Gut, das heute wieder schmerzlich fehlt.
Die Schlussakte erinnert uns daran, dass Sicherheit in Europa mehr ist als militärische Stärke. Sie lebt von gemeinsam geteilten Werten, gegenseitiger Achtung und der Bereitschaft, Konflikte mit diplomatischen Mitteln zu lösen.
Für die Zukunft Europas bleibt das Vermächtnis von Helsinki eine Herausforderung – und zugleich eine Hoffnung.
Meine Quellen:
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
Kommentare
Kommentar veröffentlichen