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Digitalisierung, Demokratie und Dystopie – Ein Zeitzeuge im digitalen Wandel

Als Kind der Nachkriegszeit lernte ich noch, Telefongespräche sorgsam zu planen, weil jedes Ferngespräch spürbar ins monatliche Budget fraß. Heute, nur wenige Jahrzehnte später, tragen wir Smartphones in der Tasche, die mehr Rechenleistung besitzen als das gesamte Apollo-Programm. Dieser rasante technologische Wandel prägt nicht nur unseren Alltag, sondern stellt auch die Fundamente demokratischer Gesellschaften infrage – mitunter mit erschreckender Radikalität.


Mein erster "Computer" war ein programmierbarer Taschenrechner in den 1970er-Jahren. Er konnte kaum mehr als Grundrechenarten und einfache Schleifen, aber ich hielt ihn für ein Wunder. Später folgte ein Heimcomputer wie der C64, klackernde Diskettenlaufwerke, flimmernde Bildschirme. Heute verwalte ich, damals noch spielerisch technikbegeistert, über smarte Geräte fast mein gesamtes Leben – vom Einkauf über die Steuererklärung bis zur Partnerwahl. Die Technik ist dabei nicht neutral geblieben: Sie hat meine Wahrnehmung von Raum, Zeit, Aufmerksamkeit und zwischenmenschlicher Bindung tiefgreifend verändert.

Die Verheißungen des Internets als Plattform demokratischer Erneuerung wirkten zunächst wie eine späte Einlösung der Aufklärung. Jeder konnte publizieren, diskutieren, Petitionen unterzeichnen, neue Gemeinschaften schaffen. Die „digitale Agora“ versprach Demokratisierung durch Entgrenzung. Doch was einst als Mittel gegen die Ohnmacht des Einzelnen erschien, entwickelt sich heute mehr und mehr zum Instrument seiner Überwachung, Steuerung und Manipulation.

Algorithmen, ursprünglich als Werkzeuge rationaler Entscheidungsfindung gefeiert, sind mittlerweile zu Akteuren gesellschaftlicher Sortierung geworden. Sie bewerten unsere Kreditwürdigkeit, entscheiden über Jobchancen, bestimmen Sichtbarkeit in sozialen Netzwerken – oft intransparent, häufig voreingenommen. Der Skandal um Cambridge Analytica, die Enthüllungen von Edward Snowden, das Vorbild des chinesischen Social-Credit-Systems – all das zeigt: Die digitale Welt ist kein neutraler Raum. Sie ist ein von Interessen durchwirktes Machtfeld.

Besonders beunruhigend ist, dass viele der dystopischen Elemente autoritärer Überwachungssysteme auch im Westen schleichend Einzug halten – unter dem Deckmantel der Effizienz, der Sicherheit, der Kundenfreundlichkeit. Wo einst demokratische Deliberation notwendig war, genügen heute automatisierte Verfahren. Der Mensch wird zur Datenspur, seine Entscheidungsmacht zur Illusion.

Der Philosoph Hans Jonas forderte einst eine „Ethik der Verantwortung“, weil technisches Handeln immer mit Fernwirkungen verbunden sei. Diese Einsicht ist heute aktueller denn je. Die Frage ist nicht mehr, ob wir Technik nutzen, sondern ob wir sie verstehen, durchschauen, kontrollieren können. Digitale Bildung darf sich nicht auf App-Kunde und Medienkompetenz beschränken. Es braucht eine politische Alphabetisierung des Digitalen: Wer profitiert? Wer entscheidet? Wer wird ausgeschlossen?

Ich habe den Sprung von der Wählscheibe zum Touchdisplay erlebt. Jede Phase versprach Befreiung – von Distanzen, von Informationsknappheit, von starrer Arbeitszeit. Doch Freiheit ist fragil. Demokratie lebt vom selbstbewussten Bürger, nicht vom passiven Konsumenten. Wenn wir die Digitalisierung nicht gestalten, sondern bloß erdulden, könnte sie sich zur größten Entmündigung seit der Erfindung der Massenmedien auswachsen. Noch bleibt die Wahl – aber wer sie nicht bewusst trifft, wird von anderen programmiert.

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