Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Heidelberg, keine Ermittlungen gegen die AfD wegen der Verteilung sogenannter "Abschiebetickets" im Bundestagswahlkampf einzuleiten, wirft gewichtige juristische und gesellschaftspolitische Fragen auf. Insbesondere im Lichte der historischen Erfahrungen mit der Justiz im Nationalsozialismus ist eine kritische Auseinandersetzung angebracht, wobei es nicht um eine Gleichsetzung, sondern um eine strukturkritische Gegenüberstellung geht.
Zunächst zur Sache selbst: Mitglieder der AfD hatten am 1. Februar auf dem Heidelberger Bismarckplatz Flugblätter in Form von "Flugtickets" verteilt, die auf die Abschiebung ausreisepflichtiger Menschen anspielten. Die Staatsanwaltschaft prüfte den Vorgang, sah jedoch keinen Anfangsverdacht für eine Straftat, insbesondere nicht für Volksverhetzung oder Beleidigung. Ihre Begründung stützte sich auf das im Wahlkampf besonders hoch zu gewichtende Grundrecht der Meinungsfreiheit. Man unterstellte zugunsten der Partei, dass sich die Aktion lediglich gegen ausreisepflichtige Personen gerichtet habe. Da zudem keine konkreten Empfänger der Flugblätter identifiziert werden konnten, entfalle die Voraussetzung für eine individualisierbare Beleidigung. Eine mögliche Ordnungswidrigkeit nach dem Landespressegesetz wurde an die zuständige Verwaltungsbehörde weitergegeben. Diese Entscheidung erscheint juristisch formal korrekt, ist jedoch gesellschaftlich und politisch ambivalent. Zwar ist die Meinungsfreiheit ein zentrales Grundrecht in der Demokratie und findet insbesondere in Wahlkampfzeiten weiten Schutz. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass politische Meinungsäußerungen selbst dann zulässig sein können, wenn sie scharf, provokativ oder verletzend formuliert sind. Gleichwohl hat auch die Meinungsfreiheit ihre Schranken, nämlich dort, wo die Menschenwürde verletzt oder zu Hass gegen Bevölkerungsgruppen aufgestachelt wird. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Darstellung auf den Flugblättern nicht bereits die Grenze zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit überschreitet. Die Entscheidung, keinen Anfangsverdacht auf Volksverhetzung zu erkennen, ist daher zwar rechtlich nachvollziehbar, lässt aber das gesellschaftliche Problembewusstsein für rassistische und ausgrenzende Rhetorik vermissen.
Im historischen Vergleich zur Justiz des "Dritten Reiches" offenbart sich ein eklatanter Unterschied: Während die NS-Justiz ein aktives Instrument staatlicher Verfolgung war und rassistische Ideologie systematisch durch Strafrecht durchsetzte, ist die heutige Justiz einem rechtsstaatlichen, verfassungsgebundenen Verständnis verpflichtet. Die NS-Justiz diente nicht dem Recht, sondern der Herrschaftssicherung, und verfolgte systematisch Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Gruppen auf Basis vager, ideologisch aufgeladener Strafvorschriften. Heute hingegen verfügt die Bundesrepublik über eine unabhängige Justiz mit klaren rechtsstaatlichen Sicherungen, darunter Rechtsmittel, richterliche Unabhängigkeit und verfassungsmäßige Bindung. Dennoch darf diese Unabhängigkeit nicht zur Passivität gegenüber demokratiegefährdender Rhetorik führen. Wenn Staatsanwaltschaften sich in Fällen potenzieller gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf formale Argumentationen zurückziehen, kann dies – auch wenn unbeabsichtigt – als Legitimierung solcher Tendenzen wahrgenommen werden. Die Lehre aus der NS-Zeit lautet nicht nur, nie wieder aktiv mitzumachen, sondern auch: nie wieder wegzuschauen. Die Aufgabe einer demokratischen Justiz ist es, nicht nur formale Legalität zu prüfen, sondern auch die Werte des Grundgesetzes zu verteidigen. Dazu gehört, menschenverachtender und ausgrenzender Rhetorik entschlossen entgegenzutreten, insbesondere dann, wenn sie von politischen Akteuren verbreitet wird, die nach öffentlichem Einfluss streben. Eine Justiz, die schweigt, wo sie sprechen sollte, riskiert, zum Zuschauer einer schleichenden Erosion demokratischer Kultur zu werden. Die Entscheidung aus Heidelberg steht deshalb exemplarisch für die Herausforderung, juristische Korrektheit und demokratische Wachsamkeit in Einklang zu bringen.
Es ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit solchen Fällen künftig nicht nur formal, sondern auch mit dem gebotenen moralischen und geschichtlichen Bewusstsein geführt wird.
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