Aus Sicht eines SPD-Mitglieds, das dem Koalitionsvertrag nicht zugestimmt hat
Ein enttäuschender Auftakt – Kritik aus Überzeugung
Die programmatische Erklärung der SPD-Ministerinnen und Minister mag vordergründig tatkräftig und zukunftsgerichtet erscheinen. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sie erhebliche inhaltliche wie strukturelle Schwächen. Als SPD-Mitglied, das dem Koalitionsvertrag aus grundsätzlichen Überzeugungen nicht zugestimmt hat, sehe ich die hier angekündigten Maßnahmen kritisch – nicht nur wegen ihrer politischen Unschärfe, sondern vor allem wegen der fehlenden sozialdemokratischen Substanz und Orientierung.
1. "Ein Land, das besser funktioniert" – eine leere Formel? Der Einstieg in die Erklärung ist sprachlich generisch und inhaltlich ausweichend. Was bedeutet "ein Land, das besser funktioniert" konkret? Die Formulierung bleibt vage und technokratisch. Sie suggeriert ein rein administratives Problem, während es tatsächlich um gesellschaftliche Verwerfungen, Verteilungsungerechtigkeit und strukturelle Schieflagen geht. Eine sozialdemokratische Analyse hätte die Ursachen für das "Nicht-Funktionieren" benannt: prekäre Arbeitsverhältnisse, Wohnungsnot, unterfinanzierte öffentliche Daseinsvorsorge. Diese Problemdiagnose fehlt völlig.
2. Tariftreuegesetz – verspätet, unzureichend, unverbindlich Der Verweis auf ein geplantes Tariftreuegesetz ist ein längst überfälliges Versprechen, das bereits in der Vergangenheit mehrfach angekündigt, aber nie konsequent umgesetzt wurde. Zudem bleibt offen, welche Sanktionen bei Verstößen greifen sollen, welche Branchen betroffen sind und ob der Bund hier überhaupt durchgreifende Kompetenzen hat. Ohne konkrete Umsetzungsperspektive und mit Blick auf die Koalitionspartner erscheint dieses Vorhaben mehr als symbolische Geste denn als ernstzunehmende arbeitsmarktpolitische Wende.
3. Mietpreisbremse bis 2029 – Kosmetik statt Kurswechsel Die Verlängerung und angebliche Verschärfung der Mietpreisbremse ist ein politischer Etikettenschwindel. Laut einer Auswertung des Deutschen Mieterbundes aus dem Jahr 2023 lagen in vielen Großstädten die Mieten trotz Bremse deutlich über der ortsüblichen Vergleichsmiete – mit Abweichungen von bis zu 30 Prozent. Zudem fehlt es an systematischer Kontrolle, sodass selbst offensichtliche Verstöße folgenlos bleiben. Die Mietpreisbremse hat bereits in ihrer bisherigen Form kaum wirksam gegriffen, weil sie durch zahlreiche Ausnahmen und lasche Kontrolle ausgehöhlt wurde. Ein echter sozialdemokratischer Ansatz hätte eine flächendeckende Mietobergrenze, eine Ausweitung des kommunalen Wohnungsbaus und die konsequente Rekommunalisierung von Wohnraum umfasst.
4. Investitionsanreize durch Sonderabschreibungen – wirtschaftspolitisch einseitig Dass Unternehmen durch Sonderabschreibungen von 30 % entlastet werden sollen, mag Investitionen fördern, doch es folgt einer Logik der Angebotspolitik, die eher an FDP- als an SPD-Programme erinnert. Zwar könnten solche Anreize in bestimmten Branchen – etwa im sozialen Wohnungsbau oder bei gemeinwohlorientierten Energiedienstleistern – auch sozialpolitisch sinnvoll wirken, doch fehlt im aktuellen Entwurf eine solche gezielte Ausrichtung. So droht die Maßnahme, primär große Unternehmen zu begünstigen, ohne gesellschaftlichen Mehrwert zu sichern. Der Glaube, dass Steuervergünstigungen automatisch soziale Spillover-Effekte erzeugen, ist durch die Realität widerlegt. Wo bleibt die Forderung nach einer höheren Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Vermögen zur Finanzierung sozialer Infrastruktur?
5. Entlastung durch Senkung von Energiekosten und Steuern – sozial selektiv Zwar ist die Senkung der Energiekosten für Unternehmen und Haushalte ein legitimes Ziel, doch fehlt jegliche soziale Differenzierung. Es macht einen Unterschied, ob ein Single-Haushalt mit Mindestlohn oder ein Doppelverdienerhaushalt mit hohem Einkommen entlastet wird. Ohne sozial gestaffelte Maßnahmen droht die Gießkanne. Die SPD sollte nicht mit der FDP um die größten Entlastungen für Mittel- und Oberschicht konkurrieren, sondern gezielt diejenigen stärken, die es am nötigsten brauchen.
6. Rentenpaket – erneut nur Ankündigungspolitik? Auch das nächste "umfassende Rentenpaket" wird angekündigt, ohne Inhalte zu nennen. Bereits frühere Pakete wie das Rentenpaket I (2014) oder die Grundrente (2021) wurden zwar medial wirksam angekündigt, blieben jedoch in ihrer sozialen Wirkung begrenzt oder wurden durch langwierige Verfahren verwässert. Die wiederholte Ankündigung ohne klare Maßnahmen lässt befürchten, dass es sich auch diesmal eher um Symbolpolitik handelt als um eine substanzielle Reform der Alterssicherung. Was fehlt, ist die verbindliche Festschreibung eines Rentenniveaus oberhalb von 50 %, eine Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung und die Absage an jede Form der kapitalgedeckten Altersvorsorge durch private Anbieter. Stattdessen bleibt der Verweis auf ein künftiges Paket im Ungefähren.
7. Sondervermögen von 500 Milliarden Euro – finanzpolitisch fragwürdig, demokratisch problematisch Die Schaffung eines 500-Milliarden-Euro-Sondervermögens zur Modernisierung der Infrastruktur klingt ambitioniert, wirft jedoch gravierende Fragen auf: Wie wird dieses Sondervermögen finanziert? Wird es parlamentarisch ausreichend kontrolliert? Was sind die sozialen, ökologischen und demokratischen Kriterien für die Mittelverwendung? Die SPD war einst die Partei der Haushaltsklarheit und der demokratischen Haushaltsdebatte – die derzeitige Politik scheint eher auf Schattenhaushalte und Exekutivmacht zu setzen.
Die SPD-Ministerinnen und Minister haben ein Programm vorgelegt, das oberflächlich den Eindruck von Tatkraft vermitteln soll, in Wirklichkeit aber alte Versäumnisse wiederholt, neoliberale Logiken übernimmt und sozialdemokratische Kernelemente verwässert. Als Parteimitglied, das auf eine glaubwürdige sozialdemokratische Alternative zur marktkonformen Politik hofft, kann ich diesem Kurs nicht zustimmen. Was wir brauchen, ist ein neuer sozialer Aufbruch – etwa durch eine massive Investitionsoffensive in kommunale Infrastruktur, die Einführung einer sozialen Grundsicherung und eine klare Priorisierung öffentlicher Daseinsvorsorge vor Marktlogik. Nur so kann die SPD wieder Profil gewinnen und verlorenes Vertrauen zurückerobern.
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